Cover
Titel
Bildschirm und Buch. Versuch über die Zukunft des Lesens


Autor(en)
Bickenbach, Matthias
Erschienen
Anzahl Seiten
184 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Janaina Ferreira dos Santos, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Lesen kann kritisches Denken unterstützen und die Urteilskraft stärken. Es erweitert das Vokabular und stimuliert die Konzentrationsfähigkeit. Diskussionen über die Bedeutung intensiven Lesens, besonders im Zusammenhang mit dem Aufkommen neuer digitaler (Lese-)Medien, sind nicht neu, kehren aber regelmäßig wieder. Im Oktober 2023 wurde das „Ljubljana-Manifest zur Lesekompetenz“ veröffentlicht, das zur Förderung des intensiven Lesens im digitalen Zeitalter aufruft. Man müsse dafür sorgen, dass bestimmte Formen des Lesens – allen voran „die Langform des Buches“ – nicht irgendwann als bloße „Relikte eines verschwindenden analogen Zeitalters“ betrachtet würden.1

In diesem Kontext erschien auch Matthias Bickenbachs populärwissenschaftliches Sachbuch „Bildschirm und Buch. Versuch über die Zukunft des Lesens“. Der Germanist stimmt jedoch nicht in die zuweilen überhitzten Diskurse um das vermeintliche Ende des Buches und die sich damit angeblich abzeichnende Bildungskatastrophe ein. Stattdessen geht er der Frage nach, welche Eigenheiten Bücher und digitale Texte gerade in ihrer jeweiligen Materialität haben und welche Rolle beide in der Zukunft des Lesens spielen können. Das Ziel des rund 180-seitigen Buches ist dabei weder eine detaillierte Reflexion des Forschungsstandes (den es als empirische Leseforschung inzwischen durchaus gibt) noch eine Manifestation politischer Forderungen. Der Autor eröffnet vielmehr eine sehr individuelle, essayistische Perspektive auf den Gegenstand.

Bickenbach arbeitet dabei viel mit persönlichen Anekdoten. Dadurch ist das Buch in einer zugänglichen Weise gestaltet; die unprätentiöse Sprache des Autors unterstützt dies noch. Schon im ersten der insgesamt zehn kurzen Kapitel skizziert er anhand eines Gesprächs mit einem Freund Extrempositionen, deren Vertreter:innen er später als „Apokalyptiker“ und „Bibliophile“ benennt – diejenigen, die den Untergang des Mediums Buch für unabwendbar halten, und diejenigen, die daran festhalten wollen (S. 7ff.). Der Autor, dessen Stimme und Position wohltuend klar werden, verortet sich selbst zwischen den beiden Polen; er hebt die je eigenen Vorteile analoger und digitaler Medien für unterschiedliche Lesemodi bzw. Lektüretechniken hervor. Die selektive und oberflächliche Lektüre, hier als hyper reading bezeichnet, lasse sich am besten digital erledigen, während das analoge Buch für das deep reading, also für ein vertieftes und gründliches Lesen, nach wie vor am besten geeignet sei (S. 11).

Das hyper reading sei jedoch keinesfalls als eine defizitäre Form des Lesens zu verstehen, ebenso wenig als eine neue Erscheinung infolge digitaler Technologien. Bickenbachs Buch liest sich dort besonders gewinnbringend, wo er Phänomene, Diskurse und Praktiken historisiert und dadurch eine Kulturgeschichte des Mediengebrauchs eröffnet. Auch den Diskurs über das Ende des Buches vermag er bis mindestens in die 1960er-Jahre zurückzuverfolgen, was bei der Einordnung allzu pessimistischer Gegenwartsdebatten hilft. Hier verdeutlicht der Autor, wie Untergangsbefürchtungen in Bezug auf das Medium Buch verschiedene Konjunkturen erfahren haben und besonders dann Ausdruck fanden, als sich eine neue populäre Unterhaltungskultur verbreitete (S. 18). Um dies zu veranschaulichen, wählt Bickenbach das Werk des kanadischen Philosophen Marshall McLuhan „Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters“.2 Dabei habe McLuhan im Aufkommen bzw. in der Weiterentwicklung elektronischer Medien wie Funk und Fernsehen eine Befreiung menschlicher Kreativität aus den „logisch-kausalen und linearen Strukturen des Buches“ (S. 19) gesehen. Kontrastiert werden McLuhans Positionen mit Statistiken zum Buchmarkt: Entgegen der Prophezeiungen der Apokalyptiker habe der Buchmarkt während der letzten Jahrzehnte im Hinblick auf Produktion und Umsatz große Erfolge verzeichnen können – wobei E-Books bislang nur einen sehr kleinen, kaum wachsenden Anteil ausmachen (S. 19f.). Die Rede vom Ende der Buchkultur sieht Bickenbach als rhetorisch wirkungsvolle Floskel (S. 18f.).

Im vierten Kapitel geht der Autor sogar erheblich weiter in die Geschichte zurück, wenn er das Buch von früher verbreiteteren Textformen wie etwa Schriftrollen abgrenzt und dabei die Frage erörtert, was ein Buch jenseits seines Textes ausmacht. Besonders hervorgehoben seien an dieser Stelle Bickenbachs Ausführungen zum Akt des Blätterns, der die Lektüre eines Buches in einer spezifischen Weise strukturiere. Die Gestaltung einzelner Seiten bedinge einen festen Leserhythmus, also eine „Taktung von Lesezeit und Unterbrechung“ (S. 53), die das Verständnis des gelesenen Textes ermögliche. Genau darin sieht Bickenbach den wesentlichen Unterschied zum digitalen Text sowie zu E-Books. Die „Gegenständlichkeit des Buchs“ (S. 59), die den Leser:innen als Orientierungsrahmen dienen könne, verschwinde in digitalen Texten völlig.

Diese Ausführungen über das Buch sind durchweg schlüssig und erhellend, wenn auch nicht ganz neu. Schwächen dagegen offenbaren sich vor allem, wenn Bickenbach ab dem fünften Kapitel über die Besonderheiten digitaler Medien spricht. Nachteilig ist hier schon das relative Alter der zitierten Beispiele. Obwohl der „Versuch über die Zukunft des Lesens“ im Frühjahr 2023 erschien, sind sämtliche digitalen Referenzen aus dem Jahr 2019 oder älter – in diesem sich rasant entwickelnden Bereich eine bedeutende Distanz. So sind TikTok und BookTok erst in der Zwischenzeit populär geworden. Darüber hinaus differenziert Bickenbach unzureichend zwischen verschiedenen Arten digitaler Texte und vergleicht das gedruckte Buch wahlweise mit E-Books, kürzeren journalistischen Texten oder auch Blogs (vgl. S. 73–77). Mehrfach leitet er aus dem Defizit einer bestimmten digitalen Textform oder gar einer spezifischen digitalen Veröffentlichung Urteile über den gesamten digitalen Raum ab, was einer kritischen Prüfung oft nicht standhält.

Die Erkenntnis etwa, Blogs würden in Buchform besser funktionieren, illustriert der Autor mit dem Beispiel des Onlinejournals „Arbeit und Struktur“3 von Wolfgang Herrndorf, das in gedruckter Form (als Buch bei Rowohlt Berlin) ab 2013 zum Bestseller wurde (S. 88f.). Sicher ließen sich weitere Beispiele finden, im akademischen Raum wie in der Trivialliteratur: Hier sei nur an den Erfolg der erotischen Buchreihe Fifty Shades erinnert, die ebenfalls den Weg vom Blog zum Buch und schließlich zum Film fand. Doch lässt sich hieran eine Gesetzmäßigkeit festmachen, oder spricht dies gegen Blogs? Bickenbach bleibt den Beweis schuldig.

Auch die Auswahl seiner Beispiele wirft Fragen auf. So widmet er eine Seite dem digitalen Angebot „Hausbibliothek: 2.800 Werke der klassischen Literatur umsonst“ (S. 78). Hier sieht der Autor sowohl Schwächen in der Auswahl der Texte als auch in der Programmierung. Völlig offen bleibt dagegen die Relevanz. In Bickenbachs Text sowie in den Endnoten wird weder klar, ob es sich hierbei um eine Website oder eine App handelt, noch wer hinter dem Projekt steht. Eine Suche danach findet lediglich eine (mittlerweile kostenpflichtige) App von 2015, die offenbar weniger als 1.000 Mal heruntergeladen wurde und keinerlei institutionelle Anbindung zu haben scheint.4 Sicher wäre das bereits 1971 begonnene, viel ambitioniertere „Project Gutenberg“5 oder eines von zahlreichen verlagsseitigen Digitalisierungsvorhaben weitaus repräsentativer. Die wenig bekannte „Hausbibliothek“ ist dagegen nur das leichte Ziel einer geradezu spottenden Kritik.

Obgleich Bickenbach mehrfach betont, nicht an einer Verlusterzählung oder einer Abqualifizierung digitaler Texte interessiert zu sein, scheint doch überall die Perspektive des Bibliophilen durch. Seine inhaltliche Expertise liegt, ebenso wie wohl seine persönliche Begeisterung, klar aufseiten der gedruckten Werke. Dessen ungeachtet eröffnen viele seiner Ausführungen über die Praxis (oder die Praxen) des Lesens interessante Perspektiven jenseits einer Dichotomie zwischen digital und analog.6 Besonders seine Ausführungen zur „Kunst des Lesens“ im sechsten Kapitel verdeutlichen ebenso klar wie anschaulich die Bedeutung literarischer „Immersion“ für menschliche Kultur und Kognition. Auch die Themen Lesegeschwindigkeit und -techniken werden vielseitig und jenseits einer bloßen Leistungsdiagnostik behandelt (S. 102–114). Dabei verflechtet Bickenbach in schwungvoller und unterhaltsamer Weise Forschungsperspektiven mit Beispielen aus 300 Jahren Literaturgeschichte. Dies eröffnet Leser:innen die Chance, ihre eigenen Praktiken und Gewohnheiten zu reflektieren und zu kontextualisieren.

Wo liegt nun für Bickenbach die im Untertitel angesprochene „Zukunft des Lesens“? Am Ende seiner abgewogenen, wenn auch nicht immer unbefangenen Ausführungen kann nur ein versöhnendes Urteil stehen. Gerade in „ko-operativer Lektüre“ mit Buch und Bildschirm sowie in einer Transmedialität sieht der Autor die Zukunft. Für das Medium Buch, für künftige Generationen von Leser:innen und für die Träger formeller wie informeller Bildung bringt die Digitalisierung somit Herausforderungen und Chancen zugleich. Dies mag kein sonderlich originelles Urteil sein, doch auf dem Weg dorthin führt Matthias Bickenbach seine Leser:innen an einigen interessanten Perspektiven und Erkenntnissen entlang. Es versteht sich, dass der Verlag den Essay auch als E-Book anbietet.

Anmerkungen:
1 Miha Kovač u.a., Die Zukunft unseres Lesens beeinflusst die Zukunft unserer Gesellschaft. Mehr Resilienz, mehr Komplexität: Die Forderungen des Ljubljana-Manifests zur Lesekompetenz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.10.2023, S. 14.
2 Marshall McLuhan, The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man, London 1962; Marshall McLuhan, Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, München 1968.
3 Online verfügbar unter https://www.wolfgang-herrndorf.de (11.11.2023).
4 Vermutlich bezieht sich der Autor auf folgende App: https://play.google.com/store/apps/details?id=com.skyhorseapps.homelib_german&pcampaignid=web_sharehare (11.11.2023).
5 Die freie digitale Bibliothek stellt inzwischen über 70.000 E-Books zum kostenlosen Download bereit: https://www.gutenberg.org (11.11.2023).
6 Speziell zum „akademischen Lesen“ siehe in dieser Hinsicht Stefan Alker-Windbichler u.a. (Hrsg.), Akademisches Lesen. Medien, Praktiken, Bibliotheken, Göttingen 2022, https://doi.org/10.14220/9783737013970 (11.11.2023).